"Jer je vrijeme blizu - Denn die Zeit ist nah"

Nachruf und Dank

Zum Ergreifendsten, das man heute erleben kann, gehörte dieser Abend des 28. Februar 1998 in unserer Waldorfschule. Wie ein hölzernes Schiff umfing uns der Raum, wo sich etwa 70 Menschen, bosnische und deutsche Menschenbrüder, begegneten, um sich auf die Reise zu machen zu den rätselhaften Bogumilensteinen im heutigen Bosnien. Es waren da die deutschen Gastfamilien mit ihren "Schützlingen", den bosnischen Bürgerkriegsflüchtlingen, Interessierte und befreundete Menschen, lebendige Begegnungskultur, den anderen freilassend und achtend. Wie lange schon ersehnten unsere bosnischen Freunde diesen Abend: Einmal "ihre" Sprache künstlerisch durchdrungen erleben! Der Hunger nach bosnischer Kultur, wenn man jahrelang kein einziges Buch lesen konnte ! Das Licht ging aus; vor uns entstand ein neues Licht: Bilder der Bogumilensteine. Steine mit den Gralszeichen von Kreuz und Schale. Pflanzenweben und Sternenwirken ähneln den Flechtbändern des kosmischen Christentums im irisch-keltischen Raum. Menschen beim rituellen Kolo-Tanz. Dann: Der "steinerne Krieger" in der Waffenrüstung Gottes, ernsten Gesichts, die rechte Hand zum Gruß erhoben, hinter ihm eine untergehende Sonne. (In mir Gedanken an Rudolf Steiners "Ich trage mein Leid in die sinkende Sonne ...") Darüber wölbt sich ein unendlicher Himmel in mediterranem Blau. Gabrijela Balog aus Zagreb rezitiert, zunächst hinter uns stehend, dann nach vorne schreitend, die aus einer schmerzvollen Tiefe dringenden wunderbaren Gedichte des Bosniers Mak Dizdar (1917 - 1971) in Originalsprache. Sie erzählen vom "Gefangensein des Menschen im Fleische, vom Sonnenwesen des Christus und von der Machtlosigkeit des Todes". Zwanzig Jahre lang arbeitete Mak Dizdar am, "Steinernen Schläfer" (dem "Kameni Spavac"), seinem Hauptwerk. Dafür schuf er eine eigene Sprache mit Anklängen an mittelalterliche Redewendungen, an Allegorien und - durch Alliteration - einer ganz neuen heilkräftigen lchhaftigkeit, die sonst im slawischen Sprachraum noch nicht entwickelt ist (wie uns Gabrijela Balog im Anschluss an die Veranstaltung erklärte). Zusammen mit der Eurythmie Martin-Ingbert Heigls und dem eindringlichen und doch einfühlsam zurückhaltenden Violinenspiel von Christian ter Veer aus den Haag erlebten wir, tief innerlich angerührt, ein Programm, in dem Sprache, Schauspiel, Musik und Eurythmie gemeinsam einen Raum bilden, der Mak Dizdars Gedichte lebendig werden ließ (und das mit sparsamst eingesetzten Mitteln!). In diesem Innenraum erklingt die Frage: Welchen Kräften gewähren wir Einlass in unsere Seelen? Und dann nähert er sich uns des nachts, fragend, der steinerne Schläfer: Meinem Mann und mir liefen die Tränen übers Gesicht. zu nah die Erinnerungen an durchwachte Nächte voller Angst, mit zerschundenen Gliedern eingepfercht in serbischen Konzentrations- und Arbeitslagern in Omarska und Brcko. Und heute? Zwangsweise Rückkehr in besetzte, zerstörte Gebiete als Fremde im eigenen Land, ohne jede Hoffnung auf Arbeit. Das Bebauen des Landes, das Spielen der Kinder auf verminter Erde wird zum "Bosnisch-Roulette"... Viele bergen das Gesicht in den Händen ... "Verlasse die Stadt nach Osten, verlasse die Stadt nach Westen; erbaue die Stadt in dir." Dann, immer wieder, immer eindringlicher, ein Wort: SUNCE, die Sonne. Das Sonnenwesen, der Christus, nähert sich uns als Tröster, der, durch dessen Sphäre wir alle zur Erde kamen, ungeachtet späterer Nationalität und Religion. "Ich bin der wahre Weinstock, ihr seid die Reben." "Wenn die Seele den großen Fluss überquert", dann wird spürbar, erlebbar das liebende Anteilnehmen der zu Tausenden gewaltsam getöteten Kinderseelen, der unzähligen jungen Toten. Das Ringen um die Seelen, der Schmerz der Engel: Das wurde zart angedeutet durch die eurythmischen Gesten. Immer mehr durchdrangen sich deutsche Sprache und bosnisches Original - eine Steigerung, bis zum Schluss Gabrijela Balog von einer umhüllenden Engelgebärde umfangen, gehalten wird ...

Minutenlang war es still, dann brauste der Applaus. Im Anschluss gaben die Künstler bereitwillig Auskunft auf unsere Fragen nach Entstehung und Werdegang ihres Werkes und der Gruppe VIDAR ("vid-" heißt"schauen", aber auch "heilen'). Gabrijela Balog berichtete, wie versucht wird, von islamischer Seite her Künstler wie Mak Dizdar zu vereinnahmen. Möge dieser Abend unseren bosnischen Freunden und allen Interessierten helfen, ihre eigene Mitte wieder zu finden, um ernsthaft, wachsam und friedevoll vertrauend in die Zukunft zu schauen. Wir konnten einige Abbildungen der Bogumilensteine erwerben. Ist es so, wie Marko Pogacnik, der slowenische Künstler und Erdheiler vermutet, dass diese geweihten Steine an ausgewählten "Akupunkturpunkten" der Erde ihre Heilkräfte aussenden? Kann man Vergleiche ziehen zum Standort von Chartres, dem Goetheanum und Schloss Borl, der Gralsburg? Liebevoll zubereitete bosnische Spezialitäten an blumengeschmückten Tischen empfingen uns anschließend: Vegetarische und Fleisch-Pitta, Baklava-Strudel, zahlreiches Gebäck, lauter kleine "Kalorien-Bömbchen"! Man begrüßte und umarmte sich; Abschiedsphotos wurden geknipst: ein letztes Fest mit den Gastfamilien. Wie nah beieinander liegen Lachen und Tränen! Ein inniges, herzliches Dankeschön an alle Mithelfer und Verantwortlichen, besonders an das Ensemble VIDAR sowie Familie Poland und den Veranstaltungskreis der Waldorfschule Schopfheim!

Eure Katharina Gérard - Cosic