Hindurchgegangen hindurch
durch die Pforte
Tod im Leben
Leben im Tod

Hindurchgegangen hindurch
durch das schlangenälteste Tor
das sich auftat
Als es an der Zeit war
Sich auftat geräuschlos
beinahe von selbst


Hindurchgegangen hindurch

Heidi Overhage-Baader


"Schlafender Stein" und
"Hindurchgegangen, hindurch"

Erlebnisse bei einer zweiteiligen Veranstaltung über Bosnien,
die Bogumilen und Schwellenerfahrungen in unserer Zeit

Unter strahlend blauem Himmel, in grünen Tälern mit würzigem Blumenflor, eingebettet in eine urwüchsig - kräftige und gleichzeitig zauberhafte Berglandschaft, liegen Steine, uralte, sprechende Steine.

Martin-Ingbert Heigl, Eurythmist und Sprachgestalter, führt uns mit Hilfe eindrücklicher Dia-Aufnahmen in die mediterrane Landschaft Bosnien-Herzegowinas, auf die Spuren einer mittelalterlichen Kultur, der Bogumilen. Die Bilder, die sie den Steinen entlockten, legen Zeugnis ab von einer besonderen Spiritualität: Pflanzenmuster, Spiralen, Sonnenzeichen lassen Lebenskräfte erspüren; Menschen, die sich zum Kolo-Tanz an den Händen fassen, geben das Bild ihrer Gemeinschaft, in die auch die Toten von jenseits der Schwelle miteinbezogen sind.

Es sind kraftvolle Bilder, die auf ihre ganz eigene, besondere Art von Auferstehung künden. Aber nicht in eine heile Welt entführen sie uns: Sie zeigen auch Rüstungen, Speere, Schwerter - der Frieden mußte erkämpft werden. Aber das Schwert steht hinter dem Schild: die Bogumilen wandten keine Gewalt an, um ihre spirituelle Lebensgemeinschaft zu verteidigen; die Rüstung ist geistiger Natur, der Kampf wird mit den Kräften der Selbsterziehung geführt, das Ziel ist die erlösende Liebe.

Auch heute ist in Bosnien-Herzegowina alles andere als eine heile Welt anzutreffen: Vor dem blauen Himmel zeichnen sich malerisch schöne weiße Häuser ab - anstelle der Fenster jedoch starren schwarze Löcher. So sind auf vielen Photos die Verwüstungen des Krieges wahrzunehmen. Verfolgung, Krieg, Zerstörung - im Mittelalter wie in der Gegenwart. Bosnien ist ein gebeuteltes Land ! Können die Botschaften der Steine uns einen Weg zeigen, der über die Zustände der Gewalt hinaus in die Zukunft weist?

Das Gespräch der Teilnehmer an der Veranstaltung "Schlafender Stein" verweilt, nach dem staunenden Wahrnehmen der sprechenden Motive, besonders bei einem Bild das zunächst rätselhaft erscheint: Zwei Schlangen stehen sich gegenüber, aufgerichtet aus einer Verknotung heraus. Sie scheinen in ein Streitgespräch verwickelt, man vermutet in ihnen zwei Opponenten. Doch dann, im Einlassen auf den Bewegungsfluß der Tiere, bekommt das Bild plötzlich einen ganz anderen Charakter ... Beim Ergründen dieses Rätsels, behutsam und sachkundig geführt von M.-I. Heigl, entsteht eine Intensität im Austausch unter den Teilnehmern, die der des Gesprächs der beiden Schlangen in nichts nachsteht . Sie bringen uns in Bewegung - in eine Bewegung des Verstehen-Wollens, des Sich-Öffnens.Und am Schluß erleben wir ein Erstaunen darüber, dass eine solche Lebendigkeit im Gespräch in so großer Runde möglich war.

Die Kraft, die die Teilnehmer aus den Bildern aufnehmen konnten, ist ihnen eine Hilfe, sich dem zweiten Teil der Veranstaltung zuzuwenden:

Nachdem M.-I. Heigl uns die spirituelle Hoffnung der Bogumilen erfahren ließ, spricht er im Rezitationsprogramm "Hindurchgegangen, hindurch" Gedichte aus der zeitgenössischen Literatur, die innere Erlebnisse aus dem Krieg mitteilen, in Bosnien und anderswo, Erlebnisse mit Gewalt und Tod oder auch mit der eigenen Ohnmacht und Fassungslosigkeit, mit Nullpunkterfahrungen.

Es ist hart, mit diesen Aussagen konfrontiert zu werden - und gleichzeitig eine Befreiung, Erlösung; denn das Leid der Kriegsopfer von Bosnien, vom Kosovo und anderen Orten der Welt ist Tatsache. Was hilft es, davor die Augen zu verschließen? Nur die Realitäten, denen wir uns bewußt zuwenden, können wir erlösen. Und dazu leistet die Kunst ihren bedeutenden Beitrag. Nicht nur von Leid und Tod sprechen die Gedichte, sondern auch von den Kräften ihrer Überwindung, von Licht und Sonne im Inneren des Menschen, von Herzenskraft und der aufrichtenden, heilenden Kraft des Wortes. In den Intervallen von Gedicht zu Gedicht erklingt Musik. Alexej Grauberger scheut sich nicht, mit seinen Cello-Improvisationen in die Tiefen des Leids hinabzusteigen; doch dort öffnen sich Quellen des Trostes, und der Zuhörer fühlt sich hingetragen zum Licht.

So läßt die Veranstaltung in ihren beiden Teilen Anschluß finden an heilende Kräfte - durch die Bilder auf den Steinen, durch das Gespräch, durch die Kunst. Heilung im einzelnen Menschen - und dadurch auch in der Welt.

Ute Höinghaus-Poland

Dieses Programm fand statt an folgenden Orten: